
Wie der Rabe das Licht brachte – Wintergeschichte der Inuit
In den ersten Wintertagen spendeten, wie jetzt, Sonne und Mond das Licht. Dann aber wurden Sonne und Mond weggenommen und die Menschen blieben auf Erden lange Zeit ohne jedes andere Licht, als den Schimmer der Sterne. Ohne jeden Erfolg machten die Zauberer ihre größten Kunststücke. Aber die Finsternis hielt an.
In einem Dorf am unteren Yuson lebte ein Waisenknabe, der immer mit den Dienstleutenauf der Bank beim Hauseingang saß. Die anderen Leute hielten ihn für närrisch und jedermann verachtete ihn. Nachdem sich die Zauberer furchtbar, aber ohne Erfolg, angestrengt hatten, Sonne und Mond zurückzuschaffen, verspottete sie der Knabe und sagte:“Was für feine Zauberer müßt ihr doch sein, da ihr nicht einmal imstande seid, das Licht wieder herbeizuschaffen, wenn sogar ich das tun kann.”
Darauf wurden die Zauberer sehr ärgerlich, prügelten ihn und warfen ihn aus dem Haus. Dieser arme Waisenknabe war wie jeder andere Knabe, aber wenn er ein schwarzes Kleid, das er hatte, anzog, wurde er in einen Raben verwandelt und blieb einer, bis er das Kleid wieder auszog.
Nachdem die Zauberer den Knaben im Winter aus dem Haus geworfen hatten, ging er im selben Dorf ins Haus seiner Tante. Er erzählte ihr, was er ihnen gesagt und wie sie ihn geschlagen und hinausgeworfen hatten. Dann bat er sie, ihm zu sagen, wo Sonne und Mond hingekommen seien, denn er wolle ihnen nachgehen.
Sie behauptete, nicht zu wissen, wo sie versteckt wären. Der Knabe sagte: “Nach deinem feingenähten Kleid zu schließen, weißt du sicher, wo sie sind, denn du hättest nie genug sehen können, es so zu nähen, wenn du nicht wüsstest, wo das Licht ist.” Nach langem überredete er seine Tante und sie sagte: –“Gut, wenn du das Licht finden willst, mußt du deine Schneeschuhe nehmen und weit nach Süden gehen zu einem Platz, den du erkennen wirst, wenn du dort bist.”
Der Rabenknabe nahm seine Schneeschuhe und brach nach Süden auf. Viele Wintertage wanderte er und die Finsternis blieb immer gleich. Nachdem er schon einen weiten Weg zurückgelegt hatte, sah er weit vor sich einen Lichtblitz, was ihn sehr ermutigte. Als er weitereilte, leuchtete das Licht wieder heller auf als vorher, und dann verschwand und erschien es abwechselnd. Schließlich kam er an einen großen Hügel, dessen eine Seite in vollem Licht stand, während die andere in finstere Nacht getaucht schien. Vor sich, hart am Hügel, bemerkte der Knabe eine Schneehütte und einen Mann, der an der Vorderseite Schnee wegschaufelte.
Der Mann warf den Schnee hoch in die Luft und so oft er das tat, verdunkelte sich das Licht.So entstand der Wechsel von Licht und Dunkelheit, den der Knabe beim Herannahen gesehen hatte. Dicht hinter dem Haus sah er das Licht, das er suchte, wie einen großen Feuerball. Dann blieb der Knabe stehen und überlegte, wie er das Licht und die Schaufel des Mannes erlangen könnte.
Nach einiger Zeit ging er zu dem Mann und sagte: “Warum wirfst du den Schnee in die Luft und entziehst unserem Dorf das Licht?” Der Mann hielt inne, sah auf und sagte: “Ich räume nur den Schnee vor meiner Türe weg und ich entziehe kein Licht. Aber wer bist du und woher kommst du?” “Es ist so finster in unserem Dorf, dass ich dort nicht leben will, und so bin ich gekommen, um bei dir zu bleiben” sagte der Knabe. “Was? Für immer?” fragte der Mann. “Ja!” antwortete der Knabe. Darauf der Mann: “Also gut; komme mit mir ins Haus.” Er steckte die Schaufel in den Boden und gebückt ging er durch den unterirdischen Eingang ins Haus und ließ, nachdem er hindurchgegangen war, in der Meinung, der Knabe sei hinter ihm, den Vorhang vor der Tür herunterfallen.
Im Augenblick, als hinter dem Mann die Türklappe herunterfiel, packte der Knabe den Feuerball und steckte ihn in die Außenfalte seines Pelzmantels; dann nahm er die Schaufel in die Hand und lief nach Norden. Er rannte so lange, bis seine Füße müde waren. Dann erinnerte er sich an sein Zaubergewand,, verwandelte sich in einen Raben und flog davon. Hinter sich hörte er das Geschrei des Mannes, der ihm folgte. Als der alte Mann merkte, dass er den Raben nicht einholen konnte, schrie er: “Behalte meinetwegen das Licht, aber gib mir meine Schneeschaufel wieder!”
Darauf antworte der Knabe: “Nein, du hast unser Dorf ganz verfinstert und sollst daher auch deine Schaufel nicht haben.” Und der Rabe flog weiter und ließ ihn zurück. Aufseinem Heimweg brach der Rabe ein Stück vom Licht ab und warf es aus, und so wurde es wieder Tag. Dann zog er wieder lange Zeit im Dunkeln weiter, warf dann wieder ein Stück Licht weg, es wurde wieder Tag. So tat er abwechselnd, bis er in seinem Heimatdorf vor dem Haus anlangte, wo er das letzte Stück wegwarf. Dann betrat er das Haus: “Also, ihr unnützen Zauberer, ihr seht jetzt, daß ich das Licht zurückgebracht habe und es wird von nun an hell sein und dann wieder dunkel: Tag und Nacht.” Und die Zauberer konnten nichts antworten.
Daraufhin ging er hinaus aufs Eis. Ein großer Wind kam auf und trieb ihn mit dem Eis über das Meer zum Land an der jenseitigen Küste. Dort fand er ein Dorf, nahm aus seiner Bewohnerschaft eine Frau und lebte mit ihr, bis er drei Töchter und vier Söhne hatte. Mit der Zeit wurde er sehr alt und erzählte seinen Kindern, wie er ins Land gekommen war. Nachdem er ihnen aufgetragen hate, wieder in jenes Land zu ziehen, woher er gekommen war, starb er.
Die Kinder des Raben zogen fort, wie er ihnen aufgetragen und gelangten schließlich in ihres Vaters Land. Dort wurden sie in Raben verwandelt und ihre Nachkömmlinge verlernten, wie sie sich in Menschen verwandeln könnten. so gibt es bis zum heutigen Tag Raben.
Im Dorf des Raben folgen Tag und Nacht einander, wie er gesagt hatte, daß es geschehen werde. Die Länge der einzelnen Tage blieb ungleich, da der Rabe manchmal lange Zeit – ohne Licht auszuwerfen, gewandert war und dann wieder in kürzeren Abständen Licht ausgeworfen hatte. Daher waren einige Nächte sehr kurz und so ist es bis zum heutigen Tag geblieben.
DANKE, liebe Sigrid, für diese wunderbare Geschichte